wolfgang m. wieland

Text über die relationale Deutung der Quantenmechanik

I wrote this text during a lockdown in fall 2021 in Vienna.

Es geht mir in folgendem Text darum Gedanken über die relationale Deutung der Quantenmechanik (RQM) zu sammeln. Die RQM geht auf Arbeiten von Carlo Rovelli aus den 90ern zurück und erlebt in letzter Zeit eine gewisse Renaissance.

Die Quantenmechanik ist eine unvollständige (wie alle Wissenschaft) doch nützliche theoretisch-mathematische Werkzeugskiste. Ihr gegenüber steht die Außenwelt. Einigkeit besteht über die theoretischen Grundlagen. Uneinigkeit herrscht darüber, wie sie zu interpretieren sei. Wie lassen sich die Sätze aus der Quantenmechanik zu Sätzen über die Wirklichkeit machen? Was, zum Beispiel, ist die Wellenfunktion? Ist sie materieller Stoff, so wie das elektromagnetische Feld es ist, oder ist sie selbst nur Kürzel für besondere Gedächtnisinhalte des beobachtenden Agens? Was überhaupt ist ein beobachtendes Agens? Bestimmt ein wacher Mensch. Kann es auch eine Fotoplatte sein? Es geht bei solchen Fragen um die Beziehung zwischen mathematischem Formalismus und Wirklichkeit. Das Problem lässt sich ganz offensichtlich von zwei Seiten aus betrachten. Der eine Zugang geht von Messaperaturen und Messprotokollen aus. Mit einigen wenigen Annahmen und Axiomen soll sich daraus der ganze Formalismus erschließen. Das ist der operationelle Zugang. Umgekehrt geht man vom theoretisch-mathematischen Rahmen aus und nimmt ihn als gegeben hin. Von dort will man sich zur Wirklichkeit bewegen. Das ist zwar weniger ambitioniert, stellt einen letztlich aber vor die selben Herausforderungen. Hier gehe ich den zweiten Weg. Die Darstellung wird damit stark von den spezifischen theoretischen Begriffen geprägt sein, die der Quantenmechanik eigen sind.

Übersicht

Von Hamilton zu Heisenberg

Ausgangspunkt der Darstellung ist die klassische Mechanik. In der Physik von Newton ist die ganze Dynamik in den drei-dimensionalen Anschauungsraum verlegt. Das ist zwar anschaulich, Stabilität, Chaos und Thermodynamik lassen sich aber besser im hamiltonschen Bilde verstehen. Alle Dynamik spielt sich dann im Phasenraum \(P\) ab. Für ein System von \(N\) Punktteilchen ist das der Raum der Orte \(q^a_i\) aller Teilchen \(i=1,2,\dots N\) und deren jeweiliger kanonischer Impulse \(p^i_a, i=1,2,\dots N, a=x,y,z\). Dazu kommen noch alle möglichen internen Freiheitsgrade, z.B. Drehimpuls und Eulerwinkel im Falle idealisierter (punktförmiger) Kreisel.

Mit fortschreitender Zeit \(t\) durchläuft das System eine Abfolge von Zuständen \(\alpha(t)\) im Phasenraum. Die dabei ausgeschmierte Bahn \(\alpha:\mathbb{R}\rightarrow P\) ist die Integralkurve des hamiltonschen Vektorfelds \(X_H\in TP\), das dem jeweiligen System zugrunde liegt. Die Bahn ist damit durch irgendeinen Anfangswert \(\alpha(t_o)\) eindeutig bestimmt – die Theorie also streng deterministisch.

Der Übergang von der newtonschen zur hamiltonschen Mechanik ist ein erster Schritt der Abstraktion. Die Quantenmechanik zwingt uns zu einem noch viel krasseren Schritt. Anstelle der klassischen Messgrößen (Observablen) \(X:P\rightarrow\mathbb{R}\), tritt jetzt deren quantenmechanische Darstellung als \(C^\ast\)-Algebra von Operatoren \(\hat{X}\) am Hilbertraum. Der hamiltonsche Fluss \(\alpha_t:P\rightarrow P,\dot{\alpha}_t=X_H|_{\alpha_t}\) wird damit zu einem Fluss \(\hat{\alpha}_t\) auf der Observablenalgebra, der seinerseits durch die heisenbergschen Bewegungsgleichungen \[\frac{\mathrm{d}}{\mathrm{d} t}\hat{\alpha}_t(\cdot)=\frac{\mathrm{i}}{\hbar} \Big[\hat{H}_t,\hat{\alpha}_t(\cdot)\Big],\] zu irgend einem Anfangswert für \(\hat{\alpha}_{t_o}\) eindeutig bestimmt ist. Für offene Quantensysteme kommen auf der rechten Seite noch weitere dissipative (Lindblad-)Terme dazu.

Jeder möglichen Tensorzerlegung der Observablenalgebra \(\mathcal{O}=\mathcal{O}_A\otimes\mathcal{O}_B\otimes\mathcal{O}_C\otimes\cdots\) entspricht dabei eine Zerlegung des Gesamtsystems in Untersysteme. Sind \(A,B,C,\dots\) solche Subsysteme, so zerfällt der zugehörige Gesamthilbertraum \(\mathcal{H}\) in ein Tensorprodukt \( \mathcal{H}=\mathcal{H}_A\otimes\mathcal{H}_B\otimes\mathcal{H}_C\otimes\cdots \). Auf die gleiche Weise entsteht aus Einzelsystemen \(A\) und \(B\) ein Gesamtsystem \(A\otimes B\). Damit sind wir bei der ersten Grundidee der relationalen Deutung angelangt. Es gibt, so behauptet Rovelli, überhaupt nur solche Untersysteme. Die Idee, dass es ein ausgezeichnetes Gesamtsystem gäbe, eine Gesamtwellenfunktion des Universums, Kern der Viel-Welten-Deutung, wird mit aller Vehemenz bestritten. Damit greifen wir unsern Betrachtungen aber voraus. Zunächst ein paar Gedanken zum Messproblem.

Jede Theorie hat ihr Messproblem

Die Quantenmechanik verwandelt die klassische Teilchenbahn \(\alpha(t)\) in eine Bahn auf der Observablenalgebra. Wie lassen sich die zugrundeliegenden operatorwertigen Bahnelemente, z.B. Ort \(\hat{q}^a(t)=\hat{\alpha}_t(\hat{q}^a)\) oder Impuls \(\hat{p}_a(t)=\hat{\alpha}_t(\hat{p}_a)\) eines Teilchens zur Zeit \(t\) messen? Darüber schweigt sich die Quantenmechanik zunächst aus. Aber das ist nicht weiter verwunderlich. Jede physikalische Theorie stößt irgendwann an einen Punkt, wo die rein mathematischen Elemente mit den Elementen der Wirklichkeit in Verbindung zu bringen sind. Diese Verbindung fällt vom Himmel, bedarf keiner weiteren Begründung und ist Teil der praktischen Gebrauchsanleitung jeder physikalischen Theorie. Vor dem selben erkenntnistheoretischen Problem steht auch die Relativitätstheorie. Für viele praktische Fragen reicht es in guter Näherung aus, sich auf Vakuumlösungen zu beschränken. Die Vakuumeinsteingleichungen bilden mit der Kinematik wechselwirkungsfreier Testteilchen eine Theorie, sagen wir \(\mathrm{ART}_0\), für sich. Der metrische Tensor jeder Lösung dieser Theorie definiert abstrakte geometrische Längen, Winkel, Geodäten, die Dauer von Zeitintervallen, Abstände u.s.w. Woher sollen wir jetzt aber wissen, dass das Zeitmaß einer Uhr am Handgelenk, der von einem Theodoliten gemessene Winkel zwischen zwei Berggipfeln am Horizont, die Länge am Maßband, dass all diese Größen irgendwas mit dem abstrakten metrischen Tensor einer solchen Vakuumlösung zu tun haben sollen? Eine mögliche Antwort bestünde nun darin zu sagen, die Messaperatur sei selbst wieder durch irgendwelche Materiefelder zu beschreiben, die ihrerseits an die Metrik koppeln. Für jedes Materiemodell \((\mathrm{M}_1,\mathrm{M}_2,\mathrm{M}_3,\dots )\) ergibt sich daraus strenggenommen eine neue Theorie \(\mathrm{ART}_1,\mathrm{ART}_2,\mathrm{ART}_3,\dots\) In guter Näherung reicht es dann aus, die Wirkung der Messaperatur auf die Metrik zu vernachlässigen. Ist das der Fall, können die aus dem metrischen Tensor abgeleiteten geometrischen Größen von \(\mathrm{ART}_0\) auf Eigenschaften der Materie in \(\mathrm{ART}_1,\mathrm{ART}_2,\mathrm{ART}_3,\dots\) zurückgeführt werden. Das grundsätzliche erkenntnistheoretische Problem hat sich damit aber nur nach hinten verschoben. Für die eine wie für die andre Theorie ist die Antwort auf die Frage, welche mathematischen Elemente \((\alpha,\beta,\gamma,\dots)\) der Theorie mit welchen Elementen \((a,b,c,\dots)\) der Realität zu identifizieren sind, aus der Theorie selbst nicht herzuleiten, sondern an allen Anfang zu stellen, das allem Experimentieren vorauszugehen hat.

Observable sind relational, Zustände auch

Nach dem kurzen Abstecher zum Messproblem der Relativitätstheorie zurück zur eigentlichen Frage, was ein Element \(\hat{X}\) der abstrakten Algebra der Observablen mit den Elementen der Wirklichkeit zu tun haben soll? Rovellis relationale Deutung der Quantenmechanik geht in ihrer Antwort auf diese Frage vom Gedanken aus, dass alle klassischen Observablen eines Systems \(A\) immer bezüglich irgend eines zweiten Bezugssystems \(B\) zu verstehen sind. Alle Obervablen sind also stets bezugsbehaftet, mit anderem Worte relational. Die relationale Deutung geht aber weit über diese der Physik wohlvertraute Tatsache hinaus. Sie behauptet weiter, dass alles, was sich überhaupt in einem System ereignet, sich immer nur bezüglich irgend eines zweiten Systems ereignen kann. Die Abfolge des ganzen Weltgeschehens ist perspektivisch. Ein Ereignis, das in dem einen Bezugssystem geschieht, mag sich in einem anderen Bezugssystem nicht mehr wiederfinden lassen. Die Existenz einer objektiven und bezugsunabhängigen Beschreibung, aus der sich das Geschehen in den Einzelperspektiven herleiten ließe, wird verneint. Sie stehe im Widerspruch zur Quantenmechanik und allen experimentellen Fakten.

Zur Beschreibung des Geschehens in einer Einzelperspektive bedient sich die rovellsche Deutung des Begriffs vom Quantenereignis. Tritt ein Quantenereignis ein, so bedeutet das, dass eine Messgröße (Observable \(\hat{X}\)) in einem System \(A\) bezüglich eines Systems \(B\) einen bestimmten Messwert \({\lambda}\) annimmt. Jeder möglichen Messgröße \(\hat{X}\) entspricht dabei ein selbstadjungierter Operator am Hilbertraum, jedem möglichen Messwert ein Eigenwert \({\lambda}\) im Spektrum von \(\hat{X}\). Kennen wir alle möglichen Messgrößen und deren Eigenwerte, wissen wir bereits alle möglichen Ereignisse. Ob ein solches Quantenereignis eintritt und wann, lässt sich nur durch Wahrscheinlichkeiten \(p_\lambda\) ausdrücken. Sie bestimmen die Neigung dafür, dass sich eine Observable \(\hat{X}\) in einem System \(A\) bezüglich eines Systems \(B\) im Eigenwert \(\lambda\) verwirklicht. Tritt ein solches Quantenereignis ein, ist der Zustand des Systems \({A}\) bezüglich dem System \({B}\) eindeutig bestimmt und durch eine Dichtematrix \(\rho^A_B=E_\lambda/\mathrm{Tr}(E_\lambda)\) gegeben, wobei \(E_\lambda\) gerade der Projektor auf den Eigenwert \(\lambda\) ist.

Vom klassischen Standpunkte betrachtet sind die Zustände \(\rho^A_B\) Wahrscheinlichkeitsmaße \(d\rho = \bigwedge^{3N}(\mathrm{d}q_i^a\wedge\mathrm{d}p^i_a)\rho(p,q)\) am Phasenraum. In der Quantenmechanik wird daraus die Dichtematrix, deren Zeitevolution \(\hat{\alpha}_{-t}({\rho})={\rho}_t\) für abgeschlossene Systeme durch die Neumann-Gleichung (pull-back der Heisenberg-Gleichung) beschrieben wird \[\frac{\mathrm{d}}{\mathrm{d} t}\rho_t= - \frac{\mathrm{i}}{\hbar} \Big[\hat{H}_t,\rho_t\Big].\] Für offene Quantensysteme kommen auf der rechten Seite noch weitere Lindblad-Terme dazu. Allgemeine Quantenereignisse lassen sich durch Krauss-Operatoren beschreiben. Ist das System \(A\) bezüglich \(B\) im Zustand \({\rho}^A_B\) und ist \(\hat{X}^{A\otimes E}_B\) eine Observable auf einem zweiten und möglicherweise größeren System \(A\otimes E\), so wird ein Quantenereignis, wo die Observable \(\hat{X}^{A\otimes E}_B\) einen möglichen Eigenwert \(\lambda\in \mathrm{spec}(\hat{X}^{A\otimes E}_B)=:I\) annimmt, durch ein System von Krauss-Operatoren \(\{M_\lambda: \mathcal{H}_A\otimes\mathcal{H}_E\rightarrow\mathcal{H}_A\}_{\lambda\in I} \) beschrieben, das folgende Eigenschaften hat: \begin{align*} \quad M_\lambda \hat{X}^{A\otimes E}_B & =\lambda\,M_\lambda,\\ \sum_{\lambda,\lambda'\in I} M_\lambda M^\dagger_{\lambda'} & = \sum_{\lambda\in I}M_\lambda M_\lambda^\dagger = \mathrm{id}_A. \end{align*} Die Wahrscheinlichkeit für das Quantenereignis \(M_\lambda\) ist dann durch den Ausdruck \[p(M_\lambda|\rho^A_B)=\mathrm{Tr}_{A\otimes E}(M_\lambda^\dagger\rho^A_BM_\lambda)\] gegeben. Tritt ein solches Ereignis \(M_\lambda\) im Bezugssystem \(B\) ein, so befindet sich \(A\) bezüglich \(B\) in einem neuen Quantenzustand, der durch die Dichtematrix \[\rho'^A_B = \frac{\mathrm{Tr}_E\big(M^\dagger_\lambda \rho^A_B M_\lambda\big)}{\mathrm{Tr}_{A\otimes E}\big(M^\dagger_\lambda \rho^A_B M_\lambda\big)}\] gegeben ist.

Wigners Freund

Ist der Zustand von einem Gesamtsystem \(A\otimes B\) bezüglich dem System \(C\) durch eine Dichtematrix \(\rho^{A\otimes B}_C\) gegeben und befindet sich andrerseits \(A\) bezüglich \(C\) in einem durch eine Dichtematrix \(\rho^A_{C}\) gegebenen zweiten Zustand, so muss sich das System \(A\) bezüglich \(B\) in irgendeinem dritten Zustande \(\rho^A_{B}\) befinden. Es befinde sich also \(A\otimes B\) bezüglich \(C\) im Zustand \(\rho^{A\otimes B}_{C}\) und \(B\) bezüglich \(C\) im Zustande \(\rho^B_{C}\). Was lässt sich dann im Rahmen der relationalen Deutung über die dritte Dichtematrix \(\rho^{A}_B\) sagen?

Zunächst können wir aus \(\rho^{A\otimes B}_C\) sofort die Zustände von \(A\) und \(B\) bezüglich \(C\) bestimmen \begin{align*} \rho^B_C &= \mathrm{Tr}_A\Big(\rho^{A\otimes B}_C\Big),\\ \rho^A_C &= \mathrm{Tr}_B\Big(\rho^{A\otimes B}_C\Big). \end{align*} Aus der Perspektive von \(\rho^{A\otimes B}_C\) lässt sich über den Zustand \(\rho^A_B\) aber genau gar nichts sagen. Das hat mit einer der grundlegenden Ideen der relationalen Deutung zu tun, dass nämlich verschiedene Subsysteme verschiedene Ereignisabläufe erleben. Jedem Ereignisablauf entspricht ein (diskreter) Ablauf von Quantenzuständen. Ein einheitlicher und allen möglichen Subsystemen gemeinsamer Ereignisablauf steht im Widerspruch zur relationalen Deutung (und der Quantenmechanik überhaupt). Aus der Zustandsmatrix \(\rho^{A\otimes B}_C\) lässt sich der Zustand \(\rho^A_B\) nicht rekonstruieren. Wir können einzig sagen, dass es irgendein unbestimmtes System von Krauss-Operatoren \(M_{C\rightarrow B}^i:i=1,\dots,\mathrm{dim}(\mathcal{H}_A)^2\) geben muss, so dass \begin{align*} \rho^A_B &= \sum_i M_{C\rightarrow B}^i\rho^A_C \big[M_{C\rightarrow B}^i\big]^\dagger. \end{align*} Es ist damit zunächst nichts besonderes gesagt. Für zwei gegebene Zustände \(\rho\) und \(\rho'\) lassen sich schließlich immer irgendwelche Krauss-Operatoren \(\{M_i\}\) finden, die eine auf die andere Dichtematrix abbilden. Andrerseits ist damit auch schon alles gesagt, worauf es in der relationalen Deutung ankommt. Einem System \(A\) lässt sich kein objektiver Zustand \(\rho^A\) an sich und unabhängig vom Referenzsystem zuordnen. Der Zustand ist immer nur im Bezug auf irgend ein zweites System \(B,B',B'',\dots\) zu verstehen, so dass zu jedem möglichen Bezugssystem auch zugehörige Zustände \(\rho^A_{B},\rho^A_{B'},\rho^A_{B''},\dots\) existieren müssen. Jeder dieser Zustände beschreibt eine andere Perspektive, aus der sich die Außenwelt betrachten lässt. Sobald sich in einer dieser Perspektiven etwas ereignet, springt das System von einem Zustand \(\rho^A_B(i)\) in einen neuen Zustand \(\rho^A_B(i+1 )\) bezüglich \(B\). Wird so ein Quantensprung durch Krauss-Operatoren \(M_{i\rightarrow i+1}\) beschrieben, so wird er mit der Wahrscheinlichkeit \(p(M_{i\rightarrow i+1}|\rho^A_B(i))=\)\(\mathrm{Tr}(M_{i\rightarrow i+1}\rho^A_B(i) M_{i\rightarrow i+1}^\dagger)\) auch tatsächlich stattfinden.

Stärken und Schwächen

Die relationale Deutung gibt der Quantenmechanik einen Sinn ohne von einem klassischen, außerhalb der quantenmechanischen Beschreibung stehenden Beobachter auszugehen. Sie zeigt, dass ein objektiver Kollaps der Wellenfunktion oder gar das Selbstbewusstsein des Menschen für eine schlüssige Interpretation der Quantenmechanik nicht notwendig ist. Rovellis relationale Interpretation der Quantenmechanik teilt diese Leistung mit anderen Zugängen (z.B. dem Quanten-Bayesianismus, der Viel-Welten-Interpretation, der konsistent-historistischen Interpretation oder der statistischen oder Ensemble-Interpretation der Quantenmechanik). Es gibt aber auch Schwächen, sowohl was die Darstellung und Motivation, als auch was den Formalismus selbst angeht. Zwei davon möchte ich herausgreifen.

Zusammenfassung

Ein abschließendes Urteil über die verschiedenen Deutungen der Quantentheorie ist erst dann möglich, wenn ein Konsens darüber besteht, was überhaupt der Sinn und Zweck solcher Deutungen sein soll. Wird vorausgesetzt, dass dem Messprozess in keiner wissenschaftlichen Theorie eine bevorzugte Rolle zukommen soll, wird man mit der traditionellen Lesart der Kopenhagener Deutung nicht viel anfangen können. Sind außerdem Realismus, Determinismus und Materialismus als Fundament aller Wissenschaft anerkannt, kann eine objektiv probabilistische Theorie keine befriedigende Beschreibung der Naturvorgänge sein. Wenn aber umgekehrt der Zweck sein soll, von einer formalen Gleichberechtigung aller physikalischen Systeme auszugehen, daraus immer kompliziertere Gesamtsysteme zu bauen, das beobachtende Agens selbst als ein solches zwar kompliziertes aber doch gewöhnliches physikalisches System anzusehen und wenn außerdem anerkannt ist, dass die Wahrscheinlichkeiten, die uns die Quantenmechanik für den Eintritt bestimmter Ereignisse in einem physikalischen System gibt, als objektive Eigenschaften ebensolcher Systeme (oder besser von Ensembles solcher Systeme) verstanden werden können, dann wird die relationale Deutung einen befriedigenden Erklärungsrahmen für die Vorgänge in der Quantentheorie liefern können. Eine rationale Bewertung von Rovellis Thesen zur Quantenmechanik kann also selbst wieder nur relativ zu irgendwelchen mehr oder minder willkürlich gewählten Grundsätzen gefunden werden. Mit rationalen Methoden allein ist aber in einer Situation, wo wir kein experimentelles Indiz dafür haben, dass die Grundlagen der Quantentheorie irgendwo verletzt wären, ein objektives Urteil darüber, welcher Deutung der Vorzug gegeben werden soll, unmöglich. Es kann selbst wieder nur ein relatives (relationales) Urteil sein, das uns zwischen einer oder der anderen Deutung wählen lässt.

ww
Wien, Herbst 2021

Weiterführende Literatur

  1. Carlo Rovelli, "Relational Quantum Mechanics," Int. J. of Theor. Phys. 35 (1996) 1637, arXiv:quant-ph/9609002.
  2. Carlo Rovelli and Matteo Smerlak, "Relational EPR," Found. Phys. 37 (2007) 427-445, arXiv:quant-ph/0604064.
  3. Anton Zeilinger, "A Foundational Principle for Quantum Mechanics," Found. Phys. 29 (1999) 631–643, doi:10.1023/A:1018820410908.
  4. Časlav Brukner and Anton Zeilinger, "Malus' Law and Quantum Information," Acta Physica Slovaca 49 (1999) 647-652, www.univie.ac.at/qfp/publications3/pdffiles/1999-08.pdf.
  5. Federico Laudisa and Carlo Rovelli, "Relational Quantum Mechanics," The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Spring 2021 Edition), Edward N. Zalta (ed.), plato.stanford.edu/archives/spr2021/entries/qm-relational/.
  6. Phillip Hoehn, "Quantum theory from rules on information acquisition," Entropy 19 (2017) 98, arXiv:1612.06849.
  7. Časlav Brukner, "Qubits are not observers — a no-go theorem," (7 Jul 2021) arXiv:2107.03513.
  8. Jacques L. Pienaar, "A quintet of quandaries: five no-go theorems for Relational Quantum Mechanics," (1 Jul 2021) arXiv:2107.00670.
  9. Andrea Di Biagio and Carlo Rovelli, "Relational Quantum Mechanics is about Facts, not States: A reply to Pienaar and Brukner," (7 Oct 2021) arXiv:2110.03610.